Wenn jede Entscheidung zählt

Das Telefon von Dr. med. Manuela Stotz klingelt. Eine junge Patientin mit Verdacht auf ein schweres Schädel-Hirn-Trauma ist bereits mit der Rega unterwegs und trifft in wenigen Minuten im Inselspital Bern ein. Im Schockraum, wo die Erstversorgung erfolgt, hat die Oberärztin die Leitung inne und muss innerhalb kürzester Zeit lebenswichtige Entscheidungen treffen.

«In meiner Rolle muss ich als Erstes entscheiden, wie ich das Behandlungsteam zusammenstelle», erklärt Dr. med. Manuela Stotz. Sie arbeitet seit 2018 als Oberärztin im Universitären Notfallzentrum (UNZ) des Inselspitals. Im Basisteam mit dabei sind jeweils zwei Notfallpflegefachpersonen, eine Assistenzärztin oder ein Assistenzarzt, eine Studentin oder ein Student sowie eine Oberärztin oder ein Oberarzt. Bei Bedarf kann das Team erweitert werden: «Da es sich in diesem Fall vermutlich um ein schweres Schädel-Hirn-Trauma handelt, biete ich zusätzlich Fachpersonen der Anästhesiologie und der Neurochirurgie auf.»

Informationen sammeln, bewerten und dann entscheiden
Wenige Augenblicke später trifft das gesamte Behandlungsteam vor dem Schockraum ein. Manuela zieht ein blaues Gilet an – so ist sie für alle als Lead erkennbar. Sie wird nicht direkt an der Patientin arbeiten: «Meine Aufgabe besteht darin, Informationen zu sammeln, zu bewerten und auf dieser Basis Entscheidungen zu treffen.» Alle anderen im Behandlungsteam bringen auf ihrer Brust einen Kleber an, beschriftet mit ihrem jeweiligen Fachbereich. Im Schockraum können sich maximal 15 Personen aufhalten – dank der Kleber wissen alle, wer in welcher Funktion agiert. Würde es sich hier um eine Fernsehserie handeln, würden Manuela und ihr Team nun auf dem Dach die Patientin abholen. In der Realität läuft das anders ab: Sie warten im Schockraum auf das Rettungsteam. Die Rega-Mitarbeitenden eilen den Gang entlang und schieben die Patientin in den Schockraum. Jetzt gilt es zuzuhören: Die Notärztin gibt einen kurzen Überblick über den Hergang, die Bewusstseinslage der Patientin und den Verlauf des Transports. Dann wird die Patientin umgelagert, und das Rettungsteam verabschiedet sich. Die Verantwortung und Entscheidungsfindung obliegen nun Dr. Stotz und ihrem Team.

Ein Schema zur Unterstützung der Entscheidungsfindung
Die schwer verletzte Patientin wird nach einem standardisierten Vorgehen erstversorgt. Alle wissen, was zu tun ist, denn das sogenannte ABCDE-Schema gibt die Prioritäten bei der Behandlung kritisch kranker oder verletzter Personen vor. 

Das Behandlungsteam hakt nun Buchstabe für Buchstabe ab. Manuela entscheidet jeweils, ob Interventionen nötig sind. Eine Assistenzärztin startet mit dem Buchstaben A und kommuniziert ihre Beobachtungen und Handlungen. Sind die Atemwege frei? Atmet die Patientin? Die Oberärztin bemerkt, dass die Patientin Bewusstseinsstörungen hat. «Jetzt muss ich entscheiden, welche Massnahme nötig ist und wer sie ausführt.» Zusammen mit dem Anästhesieteam entscheidet Manuela, die Patientin zu intubieren, um anschliessend mit dem Buchstaben B fortzufahren. Hierbei werden die Atmung und die Sauerstoffsättigung überprüft. Beim Buchstaben C wird die Patientin mit allerlei Kabeln und Schläuchen an verschiedene Geräte angeschlossen. Nebst der Überwachung des Kreislaufs geht es auch darum, Blutungen und lebensgefährliche Knochenbrüche zu lokalisieren.

Manuela erklärt: «Bei einem Schädel-Hirn-Trauma besteht immer die Wahrscheinlichkeit, dass eine Hirnblutung vorliegt.» Und das ist bei dieser Patientin der Fall. Beim Buchstaben D wird der neurologische Status kontrolliert, dazu gehören beispielsweise Pupillenweite und -reaktion sowie Lähmungserscheinungen. Deshalb involviert die Oberärztin jetzt die beigezogenen Spezialistinnen und Spezialisten aus der Neurochirurgie. Zum Schluss wird die Patientin für eine Ganzkörperuntersuchung entkleidet. Nach einer knappen halben Stunde ist diese Primary Survey abgeschlossen. Es steht fest, dass die Hirnblutung operativ behandelt werden muss und die Patientin anschliessend auf die Intensivstation verlegt wird. «Diese Schnelllebigkeit liebe ich an meinem Beruf», erzählt Manuela und hängt ihr blaues Gilet wieder an den Haken.