100 Jahre Insulin - Dynamische Berner Diabetesforschung
Gespräch mit Prof. Christoph Stettler, Direktor und Chefarzt Universitätsklinik für Diabetologie, Endokrinologie und Metabolismus am Inselspital, Universitätsspital Bern.
Wir führen dieses Gespräch zum Anlass der 100-jährigen Entdeckung des Insulins. Uns fällt auf, wie dynamisch der Forschungsstandort Bern in Bezug auf Diabetes heute ist. Wieso ist die Diabetesforschung auch heute noch derart aktiv?
Ja, das ist korrekt. Diabetesforschung boomt hier in Bern und weltweit seit einigen Jahren enorm. Das hat verschiedene Gründe. Zum einen ist Übergewicht und daraus resultierende Diabetes Typ 2 eine enorme Herausforderung weltweit. Das betrifft die USA und Europa ebenso wie etwa die grossen Schwellenländer China und Indien. Da kommt eine «Zivilisationskrankheit» in bisher unbekannten Dimensionen auf uns zu. Zum zweiten muss man schon sehen: Wir haben heute ein wesentlich besseres Verständnis der Diabetes-Vorsorge (im Fall von Typ 2) und der Therapie als bei der Entdeckung des Insulins. Wir stehen heute kurz davor die Bauchspeicheldrüse technisch nachzubauen.
Ein künstliches Pankreas?
Ja, genau. Das System nennt sich Closed-Loop-System und besteht aus einem Sensor, der Blutzucker und gegebenenfalls weitere Daten direkt im Gewebe misst, einem Algorithmus, der die Daten interpretiert, und einer Pumpe, die mittels sofortiger Injektionen Insulin in das Gewebe abgibt. Bei allen drei Elementen, der Sonde, dem Algorithmus und der Pumpe haben wir in den letzten Jahren riesige Fortschritte machen können. In der Praxis kommt bei Typ 1 Diabetes heute oft ein Hybridsystem zum Einsatz, bei dem das System voll automatisiert funktioniert und einzig noch das Insulin vor einer Mahlzeit aktiv ausgelöst werden muss, damit die Wirkung früh genug einsetzt. Bei Typ 2 Diabetes sind sogar vollautomatische Systeme im Einsatz.
Schauen wir uns diese Technik doch in Bezug auf Ihre Forschungstätigkeit kurz näher an. Sie sagen, bei der Messung seien einige Durchbrüche erzielt worden oder stünden unmittelbar bevor. Die Messsonden der Closed-Loop-Systeme sind zwar sehr klein und tragbar geworden, sie messen aber immer noch Glukosewerte mit einer gewissen Verzögerung. Woran arbeiten Sie, um dies zu ändern?
Wir arbeiten sowohl an Implantaten, die in Echtzeit messen sollen, als auch an nicht invasiven Verfahren, die das Verhalten aufschlüsseln und so Alarm auslösen können. Der Blutzucker ist ein biologischer Wert, der sehr dynamisch ist und sich schnell ändern kann. Eine Unterzuckerung kann innert Minuten einen kritischen Wert erreichen, was zum Beispiel während des Autofahrens fatal sein kann. Es ist anzunehmen, dass nicht wenige Autounfälle auf dieses Phänomen zurückzuführen sind. Wir messen Unterzuckerung mit den heutigen Sensoren im Unterhaut-Fettgewebe, nicht direkt im Blut. Dadurch erhalten wir Resultate mit etwa 15 Minuten Verzögerung.
Wir haben uns deshalb gesagt, wenn Unterzuckerung beim Autofahren so gefährlich ist, können wir nicht direkt das Auto dazu verwenden, eine drohende Unterzuckerung zu detektieren? Moderne Fahrzeuge erheben eine riesige Datenmenge darüber, was wir beim Fahren tun, und wie wir es tun. Aktivitäten wie Beschleunigen, Bremsen, Lenken, Randlinien zu nahekommen und Abstände nicht einhalten werden schon lange gemessen. Innovative Technologien verfolgen künftig auch unsere Augen, um Schläfrigkeit oder Unkonzentriertheit zu ermitteln. Die zu erhebenden Parameter können beliebig erweitert werden um Puls, Sauerstoff und Atmungsfrequenz. Wir haben deshalb ein Studienprojekt gestartet, bei dem wir die Fahrerin beziehungsweise den Fahrer zuerst bei normalem Zuckerwert fahren lassen, bevor wir sie in eine künstliche Unterzuckerung versetzen. Durch den Vergleich fahrspezifischer Parameter mit und ohne Unterzuckerung können wir ein Warnsystem aufbauen, das sogar noch schneller reagiert als die aktuell verfügbaren Zuckersensoren. Als weltweit erstes Forschungsteam haben wir dabei Tests mit Personen im fahrenden Auto durchgeführt. Damit wir niemanden gefährden, konnten wir abgesperrte Strassen auf dem Waffenplatz Thun befahren. Das Fazit dieser Arbeiten ist: Es funktioniert, das Auto erkennt die Unterzuckerung frühzeitig und kann einen Alarm auslösen.
Das ist ein erfreuliches Resultat. Wie sieht es mit denjenigen Leuten aus, die nicht im Auto unterwegs sind? Was können sie von der Berner Forschung erwarten?
Wir studieren natürlich auch weitere Geräte. Unsere RADAR-Studie zum Beispiel arbeitet mit den Daten von Smartwatches. Auch diese erheben eine Vielzahl von Gesundheitsdaten und Bewegungsparametern. Die eignen sich hervorragend, um sehr früh festzustellen, ob jemand in die Nähe einer drohenden Unterzuckerung gelangt. Sie können bei Bedarf einen Alarm auslösen und den Träger oder die Trägerin auffordern, das Verhalten anzupassen und den Blutzucker zu messen.
Die Studien, die Sie hier erwähnen, sind sehr praxisnah und bewegen sich im Feld der Medtech-Branche. Berner Führungspersönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft erwähnen gerne den «Medizinalstandort Bern» – sind Ihre Projekte Ausdruck davon?
Ja, unsere Projekte profitieren enorm vom Forschungs- und Entwicklungsumfeld und der Affinität zur Medtech-Branche in Bern. Wir haben hier einen einmaligen Mix aus universitärer Forschung zum Beispiel am ARTORG Center for Biomedical Engineering Research oder am Department of Biomedical Research DBMR, dann von klinischer und angewandter Forschung am Inselspital, dem Berner Universitätsspital und schliesslich der tatkräftigen Unterstützung im Bereich der translationalen Forschung und Umsetzung am sitem-insel, dem Schweizerischen Institut für Translationale Medizin und Unternehmertum. Dort sind auch das Diabetes Center Bern (DCB), eine Stiftung des Medtech-Unternehmers Willy Michel, situiert und die Forschungsplattform NeuroTec der Universitätsklinik für Neurologie, die eine Forschungs-Wohnung aufgebaut hat, die alle möglichen Daten von Probandinnen und Probanden ermittelt. Solche Daten könnten für uns wiederum von Interesse sein.
Das DCB hat jüngst mit einem internationalen Projektwettbewerb von sich reden gemacht. Da ist ein enormer Innovationschub spürbar. Wie ist die Zusammenarbeit zwischen Insel Gruppe und DCB organisiert?
Das DCB ist ein Glücksfall für Bern undfür die Forschung an der Uni und am Inselspital. Das Stiftungsvermögen wird zur Hälfte für vier Stiftungsprofessuren eingesetzt. Diese sind an meinem Lehrstuhl angestellt und forschen am DCB gemeinsam mit den Forschenden der Universität und des Universitätsspitals. Ich bin als Klinikdirektor, Chefarzt und als Ordinarius der Universität für die Leitung zuständig. Wir haben bereits die erste Professur hervorragend besetzen können: Im September hat Frau Prof. Dr. Liliane Witthauer ihre Arbeit bei uns aufgenommen. Sie ist Physikerin und Spezialistin für Sensorik. Damit ist der Bogen geschlossen zu Ihrer ersten Frage: der Messung des Blutzuckers.
Kommen wir noch auf die Forschungsfragen zu sprechen, die an Ihrer Klinik derzeit aktuell sind. Welche weiteren Schwerpunkte stehen im Vordergrund?
Die Berner Diabetesforschung ist heute breit aufgestellt. Ich nenne spontan etwa: die Ausdehnung der Forschungstätigkeit auf genetische Aspekte des Autoimmunsystems, zweitens ein vertieftes Verständnis des Glukose-Managements in besonderen Situationen, einer Operation etwa, oder beim Einsatz in sehr schweren Fällen mit fortgeschrittenen Komorbiditäten wie Nierenversagen. Auch eine breitere klinische Sichtweise ist uns ein Anliegen, etwa der Einbezug des Herz-Kreislaufsystems in enger Zusammenarbeit mit unseren Kolleginnen und Kollegen der Kardiologie.
Sie sprechen die Situation im Spital an. Welche Forschungsziele verfolgen Sie im Bereich des Diabetesmanagements innerhalb des Spitals?
Wir wissen heute, dass bei 20–30 Prozent unserer stationären Patientinnen und Patienten Diabetes ein Thema ist, sei es, dass eine Erkrankung schon vorliegt oder dass während des Spitalaufenthalts erhöhte Blutzuckerwerte festgestellt werden. Beim systematischen Diabetesmanagement am Spital sehen wir noch grosses Potenzial. Wir haben zeigen können, dass fehlendes Glukose-Management den Spitalaufenthalt verlängern und dass das Ergebnis einer Behandlung schlechter ausfallen kann. Wir haben nun laufende Forschungsprojekte mit der Viszeralchirurgie, bei denen vollautomatische Closed-Loop-Systeme zum Einsatz kommen. Das vereinfacht auch die Glukoseüberwachung für die Anästhesiologie rund um Operationen, und wir sind gespannt auf die Forschungsresultate.
Das ist eine eindrückliche Palette von Forschungsfragen. Ihr Team muss sehr breit aufgestellt sein?
Ja, das ist wohl unsere grösste Stärke. Ich habe Kolleginnen und Kollegen in meinem Team an der Universitätsklinik, die zu den internationalen Kapazitäten in ihrem Forschungsbereich gehören. Als Forschungsleiterin arbeitet Prof. Dr. med. et phil. Lia Bally seit einigen Jahren hier. Sie publiziert regelmässig in wissenschaftlichen Top-Journals und gilt als Kapazität im Bereich des Künstlichen Pankreas.
Mit den erwähnten Stiftungsprofessuren wird sich das Team noch erweitern. Das Wichtigste für mich persönlich ist dabei, eine Gruppe von Spitzenleuten aufzubauen, die zusammen Exzellenz in der Forschung anstrebt und zugleich immer die Patientinnen und Patienten im Auge hat. Unsere Forschung findet nahe am Patientenbett statt. Unser Ziel muss es sein, dass die Diagnose Diabetes eines Tages ihren Schrecken verliert und die Betroffenen ein normales Leben führen können.
Vielen Dank für das Gespräch.