Chronische postoperative Schmerzen richtig erkennen

Anfang 2022 trat die revidierte Klassifikation von Krankheiten der WHO in Kraft. Dort wird chronischer Schmerz erstmals nicht mehr nur als Begleitsymptom, sondern als eigenständige Erkrankung erfasst. Neu steht der Schmerzmedizin auch eine global geltende, standardisierte Definition und Erfassung von chronischem Schmerz zur Verfügung. Eine Studie unter der Leitung des Inselspitals, Universitätsspital Bern, und der Universität Bern zeigt, wie sich diese auf die Diagnose von chronischen postoperativen Schmerzen auswirkt.

Schmerzen nach einer Operation sind nicht ungewöhnlich. Sie sind zwar unangenehm, verschwinden aber meist nach wenigen Tagen wieder. Bei einigen Patientinnen und Patienten entwickeln sich dagegen Schmerzen, die länger als drei Monate anhalten. In der Fachsprache spricht man dann von chronischen postoperativen Schmerzen.

In der elften Version der WHO-Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) werden chronische Schmerzen erstmals nicht mehr nur als Symptom, sondern als eigenständige Krankheit erfasst. Erfreulicherweise bietet die ICD-11 auch eine Definition für chronische postoperative Schmerzen. In diesem Punkt herrschte früher Unklarheit, was zwangsläufig zu Unterschieden in den berichteten Fallzahlen führte.


Schmerz ist mehr als körperlicher Schmerz

Nicht selten wurden chronische postoperative Schmerzen hauptsächlich mithilfe einer Schmerzskala erfasst. Damit wurde aber allein die Schmerzintensität gemessen. Die ICD-11 Definition geht nun weiter: Zusätzlich zur Schmerzintensität sollen auch der Schweregrad der schmerzbedingten Einschränkungen im Alltag und die emotionale Belastung der Betroffenen – kurz die Lebensqualität – berücksichtigt werden.

Eine in der Fachzeitschrift «Pain» veröffentlichte Studie unter der Leitung des Inselspitals, Universitätsspital Bern und der Universität Bern zeigt, dass mit dieser gesamtheitlichen Bewertung die Diagnose «chronischer postoperativer Schmerz» bei deutlich weniger Patientinnen und Patienten zutrifft als bisher angenommen.

Das Forscherteam analysierte die Daten von 2'319 Patientinnen und Patienten, die zwischen 2012 und 2020 operiert und im internationalen PAIN OUT-Schmerzregister erfasst wurden. PAIN OUT ist ein europäisches, multizentrisches Projekt zur Verbesserung der Behandlung postoperativer Schmerzen. Das Register enthält Informationen zu Krankengeschichte, Operation, Anästhesie und Schmerztherapie. Zusätzlich wurden mittels Fragebogen die von den Patientinnen und Patienten selbst wahrgenommene Schmerzstärke und verschiedene schmerzbedingte Beeinträchtigungen dokumentiert.


Unterschiedliche Definitionen führen zu unterschiedlichen Fallzahlen

Die Analyse zeigt, dass ein Jahr nach der Operation 8,6 Prozent der Patientinnen und Patienten sowohl Schmerzen wie auch schmerzbedingte Funktionsstörungen aufwiesen und so den ICD-11-Kriterien für die Diagnose «chronische postoperative Schmerzen» entsprachen. Bei einer noch strengeren Auslegung der ICD-11 – nämlich, dass die Schmerzstärke nach der Operation zunehmen muss – sind es nur noch 3.3 Prozent.

Für die Praxis bedeutet dies, dass mit der neuen ICD-11 Definition weniger Patientinnen und Patienten unter die Kategorie «chronische postoperative Schmerzen» fallen als in früheren Studien beschrieben wurde. Dort sind es je nach Eingriff und Schmerzerfassung zwischen 14 und 68 Prozent. Davon litt aber vermutlich ein beträchtlicher Anteil an anderen chronischen Schmerzen, die mangels klarer Kriterien fälschlicherweise für chronische postoperative Schmerzen gehalten wurden.

Gemäss der Studienleiterin Frau Prof. Dr. med. Ulrike Stamer, Oberärztin an der Universitätsklinik für Anästhesiologie und Schmerzmedizin des Inselspitals, ist die ICD-11-Definition von chronischen postoperativen Schmerzen ein erster wichtiger Schritt zu einer optimierten Erkennung dieses Krankheitsbildes: «Früher benutzte jede Arbeitsgruppe eigene Kriterien und die Daten waren nicht vergleichbar. Dies wirkte sich sowohl für die Forschung wie auch die Behandlung der Betroffenen nachteilig aus».


Bessere Schmerzbehandlung dank ICD-11

Dass sich die gesamtheitliche ICD-11 sowohl auf die Schmerzstärke wie auch auf die Lebensqualität der Betroffenen stützt, sieht Stamer ebenfalls als Vorteil. «Je besser wir informiert sind, desto besser können wir entscheiden. Das gilt für mögliche vorbeugende Massnahmen vor der Operation wie auch für die Wahl der Schmerztherapie.».

Obwohl die Einführung der ICD-11 wesentlich bessere Möglichkeiten bietet, chronische Schmerzen abzubilden, gibt es aus Sicht der Fachexpertinnen und –experten noch Punkte, die nicht ausreichend berücksichtigt wurden. «Nicht jeder chronische Schmerz, der nach einem chirurgischen Eingriff auftritt, kann auf die Operation zurückgeführt werden. Zur Unterscheidung zwischen chronischen postoperativen Schmerzen und chronischen Schmerzen anderer Ursache ist eine genaue Erhebung der Schmerzcharakteristik und der Schmerzausbreitung im Körper hilfreich», so Stamer. Die Medizinerin wird sich dafür einsetzen, dass die ICD-11 bei der nächsten Überarbeitung dementsprechend ergänzt wird.


Expertinnen

  • Prof. Dr. med. Ulrike Stamer, Oberärztin, Universitätsklinik für Anästhesiologie und Schmerzmedizin, Inselspital, Universitätsspital Bern, und Universität Bern, Email: ulrike.stamer@STOP-SPAM.unibe.ch
  • Dr. med. Debora Hofer, Universitätsklinik für Anästhesiologie und Schmerzmedizin, Inselspital, Universitätsspital Bern, und Universität Bern


Publikation

Rethinking the definition of chronic postsurgical pain: comp... : PAIN (lww.com)


Link

Universitätsklinik für Anästhesiologie und Schmerzmedizin

Schmerzen nach einer Operation sind zwar unangenehm, verschwinden aber meist nach wenigen Tagen wieder. Bei einigen Patientinnen und Patienten entwickeln sich dagegen Schmerzen, die länger als drei Monate anhalten. In der Fachsprache spricht man dann von chronischen postoperativen Schmerzen.